Streicheleinheiten für die Seele

Sonneberg – Es ist ein ungewohntes Bild frühmorgens kurz vor acht in einem Klassenzimmer der Sibylle-Abel-Schule. Alle Tische und die meisten Stühle sind beiseitegestellt. Ein paar Stühle bilden einen Halbkreis. Auf ihnen haben zwei Schüler, vier Schülerinnen und die Schulsozialarbeiterin Christine Kalies Platz genommen. Ihre Augen sind auf die Mitte vor dem Halbkreis gerichtet.
Dort auf einer ausgebreiteten Decke sitzt die ausgebildete Krankenschwester Ramona Ernst mit ihrem tierischen Team. An ihrer rechten Seite hat sich Lucie langgemacht, eine neun Jahre alte Mischlingshündin, die zwei Hunderassen in sich vereint: Bernhardiner und Berner Sennenhund. An ihrer linken Seite hockt Molly, eine Mischlingshündin, die früher auf den Straßen Rumäniens um ihr Leben kämpfen musste. „Deshalb frisst sie auch alles, was runterfällt“, erklärt Ernst den Achtklässlern der staatlichen Gemeinschaftsschule in Sonneberg.
Molly kann einige Kunststückchen. „Das ist mein kleiner Zirkus-Hund. Ich könnte mit ihr im Zirkus auftreten“, sagt Ernst. Und mit Lucie sei sie schon als Welpe in Kindergärten, Schulen, in Kinder-, Senioren- und Kurheimen sowie in Behinderteneinrichtungen gewesen. Lucie könne zwar keine Kunststückchen, sie sei ein echter Streichelhund. „Sie liebt es, 24 Stunden lang gestreichelt zu werden“, sagt Ernst über die Bernhardiner-Sennenhund-Mischung, die so groß ist, dass die auf dem Boden ausgebreitete Decke gar nicht ausreicht.
Nach der tierischen Vorstellungsrunde möchte Ramona Ernst erst einmal etwas über die Jugendlichen erfahren: wo sie herkommen, wie alt sie sind und ob sie schon Kontakt mit Tieren gehabt und persönlich positive oder negative Erfahrungen gemacht haben – mit Hunden oder mit Katzen.
Einige hatten schon mit Tieren zu tun, so wie Julia, die mit drei Hunden zu Hause in Kontakt gekommen ist, einer sei aber inzwischen verstorben, sagt sie. Andere hatten wenig oder gar keinen Kontakt zu Hunden. Einer der Jugendlichen gibt zu, ein klein wenig Angst vor großen Vierbeinern zu haben.
In einer Frage- und Antwort-Runde wird gemeinsam erarbeitet, wo Hunde außerhalb einer therapiebegleitenden Intervention noch zum Einsatz kommen: als Polizei- oder Drogenspürhunde, als Rettungshunde, Blinden- oder Assistenzhunde für Menschen mit Handicap.

Und dann geht es endlich auf die praktische Tuchfühlung mit den Vierbeinern Lucie und Molly. Der 13-jährige Jehad aus Syrien und der 15-jährige Amir aus Afghanistan – beide vor dem Krieg und vor den Taliban geflüchtet – sind die ersten, die mit dem Fell der streichelsüchtigen Lucie in Kontakt kommen. „Ein schönes Gefühl, total flauschig“, sagt Amir, der mit seinen Eltern bereits 2017 nach Deutschland gekommen ist. „Erst habe ich ein bisschen Angst gehabt“, bekennt die 13-jährige Lavinia aus Rumänien, nachdem Molly ein Leckerli aus ihrer Hand gefressen hatte. „Aber es war gar nicht schlimm“, sagt die Schülerin. Und die 13-jährige Sara aus Syrien urteilt: „Das hat mir alles sehr gut gefallen.“
Nach einer dreiviertel Stunde kommt die nächste Schülergruppe in den Klassenraum. Hier geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler den Hunden etwas aus ihrem Lieblingsbuch vorlesen. „Die Hunde hören nur still zu, sie lachen nicht, sie bewerten nicht, ob jemand gut, flüssig, zu schnell oder eher langsam und stockend vorliest oder ein Wort falsch ausspricht“, so Ramona Ernst. „Sie geben damit den Jugendlichen ein Gefühl der Sicherheit und motivieren sie, auch zu Hause das Lesen zu üben beziehungsweise ohne Angst und Scheu vor der Klasse vorzulesen.“ Danach gibt es noch eine kleine Spielrunde mit dem „Zirkus-Hund“ Molly. Dazu hat Ramona Ernst einige Utensilien mitgebracht wie Bälle zum Apportieren oder ein Drehrad mit drei Röhren, in denen Leckerlis versteckt sind und die Molly so lange mit der Pfote dreht, bis die Belohnung endlich aus dem Röhrchen fällt.
Sowohl Ernst als auch Schulsozialarbeiterin Kalies betonen die Vorteile des Begleithundeprojekts beziehungsweise des Einsatzes der Tiere im Schulunterricht. „Das Selbstbewusstsein der Schüler wird gestärkt, das Selbstwertgefühl. Sie kommen runter, ihr Stresslevel wird gesenkt, die Konzentrationsfähigkeit gefördert. Sie vergessen ihre Ängste, trauen sich was zu, und gleichzeitig lernen sie den achtsamen und respektvollen Umgang mit Tieren und der Natur“, sagt Ernst. Von vielen Lehrern habe sie gehört, dass die Schüler danach auch in den anderen Fächern aus sich herausgehen und sich trauen, sich im Unterricht zu melden.
„Ich spüre, dass wir über dieses Begleithundeprojekt Kompetenzen bei den Kindern fördern können, die sie fürs Leben brauchen: Sozialkompetenz und Empathiefähigkeit, was ganz wichtig ist bei auftretenden Konflikten, auch im Klassenverband. Es ist eine Einzelstärkung für jeden Schüler und es ist gleichzeitig auch eine Motivation, eine Offenheit für das Lernen, das hier innerhalb des Konzeptes der Gemeinschaftsschule passiert.“
Ihre Therapiehunde-Ausbildung hat Ramona Ernst, die auch ehrenamtlich für den Arbeiter-Samariter-Bund arbeitet, übrigens bei Manfred Burdich im bayerischen Kronach gemacht. Das Projekt an der Sibylle-Abel-Gemeinschaftsschule wurde von der Schulsozialarbeit des Landkreises Sonneberg angestoßen und aus dem Bundesförderprogramm „Demokratie leben“ finanziert.

red

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